Grusswort Laura Linnenbaum

Was bedeutet das Schweigen der Täter, das Schweigen eines komplexen Unterstützernetzwerkes, das Schweigen der Nachbarn und das Schweigen der Betroffenen in Konfrontation mit Vorurteilen und Ermittlungsfehlern? Zuletzt unser beredtes Schweigen, das Schweigen von Politik und Zivilgesellschaft, die inständig hoffen, gerade über einen in sich geschlossenen (Einzel-)Fall zu verhandeln. Etwas, das nach Abschluss des Prozesses erledigt sein wird und bei dem wir nicht genötigt sein werden, auch einmal bei uns selbst die Einstellungen und Ängste zu überprüfen, die wir Bürger mit uns herumschleppen und die verhindern, dass wir offenen Auges unsere „Unentdeckten Nachbarn“ sehen. Die „guten“ wie die „schlechten“.

Der NSU, seine Entstehung und Aufrechterhaltung, wird dabei zum Seismographen unserer Zeit. Das Theater hat die Aufdeckung der Verbrechen von Beginn an zum Anlass genommen, öffentlich über den Zustand unserer Gesellschaft nachzudenken.

Über 80 Stücke, Installationen und Performances haben wir kuratiert, in zahlreichen Publikumsgesprächen den Zukunftsüberlegungen und Vergangenheitsfragen von Zuschauern, Schauspielern und Experten gelauscht, das Gras in der Zwickauer Frühlingsstraße 26 beim Wachsen beobachtet, die Veränderungen der Keupstraße zwölf Jahre nach dem Nagelbombenattentat gesehen, Beate Zschäpe in verschiedenen Formen und Varianten auf der Bühne des Oberlandesgericht in München und im TV wie im Theater verfolgt.

Der NSU-Komplex stellt unsere Gesellschaft in vielen Bereichen in Frage. Sei es der Fall selbst, der Verlauf der Ermittlungen, der Umgang der Medien, die Reaktionen des Umfelds der Opfer, das Schweigen der Unterstützer, die Verstrickung des Verfassungsschutzes oder der schleppende, langwierige, undurchsichtige Verlauf des Prozesses. Das alles steht symptomatisch für eine langandauernde Entwicklung innerhalb Deutschlands, Europas und über die europäischen Grenzen hinaus. Die radikale Rückbesinnung auf nationale Identitäten, die zunehmende Stigmatisierung des Fremden und des Anderen als Bedrohung der eigenen Kultur sind kein reines Phänomen an den Rändern der Gesellschaft, sondern das, was in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert.

Das Theater ist mehr denn je dazu aufgerufen, uns zu einer Haltung gegenüber dieser Entwicklung herauszufordern. Die Inszenierungen, Performances und Installationen, die wir nun zum Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“ eingeladen haben, tun das. Und sie tun es in herausragendem Maße. Teils mit spielerischem Humor, teils mit bitterem Ernst, mal berührend leise, mal wild und provokativ, mit Tanz, Musik, Puppen und hochqualitativem Sprechtheater.

Vom 01. bis 11. November 2016, rund um den fünften Jahrestag der Aufdeckung des NSU, präsentiert „Unentdeckte Nachbarn“ ein Spektrum von Arbeiten, die mit ihrer Perspektive auf den Komplex den Blick über den Tellerrand hinaus gewagt haben. Die eine Verbindung zu unseren alltäglichen Umgangsformen mit „dem Fremden“ schaffen und althergebrachte koloniale Denkstrukturen aufzeigen. Gerahmt wird dieses Programm von Lesungen und Diskussionsrunden, einem kooperativen Schulprojekt und theaterpädagogischen Angeboten.

Zehn Tage lang bieten Die Theater Chemnitz, Theater Plauen-Zwickau und viele weitere Orte und Theater in Städten, in denen das Trio jahrelang „unentdeckt“ geblieben ist, ein Forum, in dem wir gemeinsam laut über unsere Gesellschaft nachdenken können. „Unentdeckte Nachbarn“ heißt, dass wir nicht schweigend zusehen werden, sondern gewillt sind, Sehgewohnheiten und Sichtweisen zu ändern, Zusammenhänge aufzuzeigen und Fragen zu stellen. Dazu möchten wir Sie herzlich einladen! Wir bedanken uns bei unseren Kooperationspartnern und freuen uns auf Ihren Besuch!

Herzliche Grüße

Laura Linnenbaum

(Kuratorin & Künstlerische Leiterin Unentdeckte Nachbarn)